Maerchenhaft


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            Buch Maerchenhaft

Der Meerprinz  von Ulrike Nolte

Manchmal, wenn man mit einem Schiff über den tiefen, dunklen Ozean fährt, sieht man es dort unten geheimnisvoll glitzern und leuchten. Das mag nur ein Funkeln der Sonne auf den Wellen sein, doch vielleicht ist es auch der wandernde Palast des Meerprinzen …

Seht ihr, wie aus der Tiefe ein gläsernes, leuchtendes Gebilde heraufsteigt? Ein rundes Kuppeldach wölbt sich hauchzart darüber, wächst und schrumpft in einem pulsierenden Rhythmus, der das Schloss vorantreibt. Viele schimmernde Kammern befinden sich darin, in denen der Hofstaat des Nixenvolkes lebt. Und in einem dieser durchsichtigen Gemächer wuchs der Meerprinz auf. Kaum war er aus seinem perlmutternen Ei geschlüpft, steckte er schon voller Neugier und Tatendrang, so dass seine Amme ihm kreuz und quer durch den Palast nachschwimmen musste, während er jeden Winkel erkundete: die Garderoben der Hofdamen, die Wohnkörbe für dressierte Kraken und die Rüstkammer der Dreizackträger, die draußen auf die Jagd gingen und Fische für die Speisetafel hereinbrachten. Die Amme ließ ihn gewähren, doch warnte sie stets: „Versuche nie, das Schloss zu verlassen, denn die Welt draußen steckt voller Gefahren. Nur hier hinter den gläsernen Wänden sind wir sicher.“

Tatsächlich wagte sich kein noch so hungriges Raubgetier in die Nähe des Palastes. Einmal hatte der Prinz gesehen, wie ein Hai versuchte, ein unvorsichtiges Nixenfräulein zu erwischen, das auf den Meeresgrund getaucht war, um Korallenschmuck zu ernten. Sie hatte sich noch rechtzeitig hinauf gerettet, so dass der Hai im Blutrausch gegen eine der trügerisch zarten Wandhäute geprallt war. Sofort hatte das Nesselgift ihn betäubt, das Schloss hatte ein Dutzend Fangarme ausgestreckt und ihn verspeist.

So hielt sich der Prinz an die Warnung seiner Amme, selbst als er schon ein junger Mann geworden war, und verließ den Palast nie. Doch konnte er stundenlang voller Sehnsucht auf die bunte Welt starren, die draußen vorüber zog. Da gab es Leuchtfische in der pechschwarzen Tiefe, Felslandschaften voller Seeanemonen, Tangwälder mit spielenden Robben, geheimnisvolle Lavahöhlen und singende Wale. Kurz nach seinem mit großem Pomp gefeierten dreißigsten Geburtstag (an dem die Meerleute volljährig werden, denn sie leben doppelt so lange wie wir Menschen und reifen daher auch langsamer heran) geschah es jedoch, dass seine Sehnsucht übermächtig wurde. An diesem Tag nämlich schwebte der lebende Palast über ein hölzernes Wrack hinweg, das halb verschüttet auf dem Sandboden lag. Deutlich sah man die Überreste der vier Masten, das gespenstisch in der Strömung wehende Segeltuch und die geschnitzte Gallionsfigur in Gestalt einer Seejungfrau.

Da konnte der Meerprinz nicht länger widerstehen, denn etwas Ähnliches hatte er noch nie zuvor gesehen. Er schwamm aus dem schützenden Schloss heraus und tauchte hinunter zum Meeresgrund, um das seltsame Gebilde zu erforschen. Staunend betrachtete er jedes fremdartige Detail, die rostigen Nägel, die geflochtenen Taue und den Anker an seiner Kette. Dann wagte er sich in das Innere des Seglers, wo ihn Kanonendecks und ein Laderaum voller vermoderter Teekisten erwarteten. Muränen hausten in durchlöcherten Rumfässern, und die Hängematten in den Schlafkajüten waren von Seesternen bedeckt.

Erst als der Prinz alle Räume des Schiffes von oben bis unten erkundet hatte, kehrte er zum Schloss zurück und bestürmte fortan die Bewohner mit Fragen über das Menschenvolk. Viel Auskunft erhielt er nicht, denn von der Hofgesellschaft teilte niemand seine Wissbegier, und man hatte die seltsamsten Vorstellungen von den Sitten und Gebräuchen der Landbewohner. Als der Prinz seiner Amme eine Tabakpfeife zeigte, die er zum Andenken mitgenommen hatte, beteuerte sie, solcherlei benutzten die Menschen als Musikinstrument. (Tatsächlich gab das Stück beim Hineinblasen gurgelnde Töne von sich.) Einen löcherigen Schuh hielt sie für eine Kopfbedeckung, die sich unter dem Kinn festschnüren ließ.

Den Prinzen lockte fortan seine Neugier immer wieder aus dem Schloss. Jedes Mal, wenn es einer Küste nahe kam, schwamm er davon und betrachtete aus der Entfernung das Treiben an Land. Er sah die Goldsucherhütten von San Francisco, die weißen Türme von Lissabon und die schwimmenden Märkte der Halong-Bucht. Die Menschen bemerkten ihn nie, und so wurde er von Mal zu Mal wagemutiger. Als das Schloss am Delta des Flusses Mahandi entlang trieb, der in das geheimnisvolle Reich Indien führt, schwamm der Prinz zum ersten Mal in das Brackwasser eines Festlandstroms hinein. Umgeben von den Bäumen eines Mangrovenwalds, dessen Pfahlwurzeldickicht wie eine Verbindung von Land und Ozean erschien, fühlte er sich fast heimisch. Von seiner Neugier angespornt, bewegte er sich weiter den Fluss hinauf, zwischen Reisfeldern hindurch, auf denen Bauern ihrer Arbeit nachgingen, bis zur tausendjährigen Stadt Cuttack. Welch eine Pracht empfing ihn dort, als er den Kopf aus dem Wasser steckte! Da gab es Maharadschapaläste aus reinstem Marmor, goldene Tempel, ehrwürdige Moscheen und ein Markttreiben am Ufer, auf dem es vor bunt gekleideten Menschen nur so wimmelte.

So fasziniert war der Prinz von den tausend verschiedenen Gesichtern dieser Stadt, dass er viel zu spät bemerkte, wie ihn nach und nach die Kräfte verließen. Als Geschöpf des Meeres wirkte das Süßwasser auf ihn wie ein schleichendes Gift, doch woher hätte er das wissen sollen? Ermattet und von Schwindel befallen versuchte er seinen Weg zurück zu finden. Er tauchte das Flussbett entlang, während über ihm allerlei Boote dahin trieben, und hätte sich mehr als einmal fast in einem ausgespannten Fischernetz verfangen. Mit jeder Minute fiel ihm das Schwimmen schwerer, und so war er vom rettenden Ozean noch weit entfernt, als ihm die Sinne schwanden. Der Fluss schwemmte ihn stromabwärts und warf ihn an einer seichten Biegung ans Ufer, die zum Landsitz eines Fürsten gehörte. Der glatt polierte Stein, auf dem er strandete, diente dem Gesinde des Hauses als Waschstelle. Hier fand ihn ein junger Küchengehilfe aus der niederen Kaste der Shudras. Sein Name war Ganesh, so wie der Gott des Glücks.

Nun ist zu erwähnen, dass die Meerleute für unser menschliches Auge von fast überirdischer Schönheit sind. Der Prinz hatte perlmutterne Haut, die vom Licht berührt in wechselnden Farbmustern schillerte. Sein Haar reichte ihm bis zu den Hüften und war blaugrün wie der Ozean. Der Unterleib besaß die Form eines kräftigen, biegsamen Seepferdschwanzes mit schaumweißen Schuppen. Er sah aus wie ein fremdartiger Gott, der den Wellen entstiegen war.

Ganesh kannte viele Geschichten, die sich um die Matsya-kanya, die Fischmenschen rankten. Aber er hatte sie stets für Fabelgeschöpfe gehalten wie die geflügelten Garudas, die man aus Stein gehauen an Tempelsäulen sah. Nun jedoch lag dieses Halbwesen in Fleisch und Blut vor ihm, und der Küchengehilfe hatte nie etwas Schöneres gesehen. Bezaubert kniete er auf dem glatten Fels nieder, beugte sich herab und küsste dem Gestrandeten den Hals, um seine Kiemen zu beatmen. Da schlug der Prinz für einen Moment die Augen auf und sah ihn an. Aus seinem Mund drang ein Geräusch wie das Rauschen von Meereswogen, und Ganesh wusste in seinem Herzen, was er zu tun hatte. Ohne Zögern band er eines der prächtigen Boote los, die seinem Herrn gehörten und mit einem Baldachin gegen die brennende Sonne abgeschirmt waren. Er trug den Prinzen an Bord und stakte das gestohlene Boot flussabwärts in Richtung des offenen Meeres.

Ganesh legte seine ganze Kraft in die Arbeit, und schon bald befanden sie sich im Labyrinth des Mangrovenwalds, wo die Gavialkrokodile im Blätterschatten trieben und ihren Weg mit gelben Schlitzaugen verfolgten. Wann immer Ganesh seine Lippen auf die Kiemen des Prinzen presste, erwachte dieser aus der Betäubung und betrachtete ihn mit grünen Jadeaugen. An der Küste angelangt, küsste Ganesh den Prinzen ein letztes Mal. Er hob ihn in seine Arme und fühlte die kühle Geschmeidigkeit der Schuppenhaut, atmete den Duft von Seelilien ein, der dem Meergeschöpf anhaftete. Dann ließ er ihn über Bord ins klare Wasser gleiten. Das Letzte, was er von dem Prinzen sah, waren grüne Edelsteinaugen und ein schneller Schwanzschlag, der den Nixenkörper in die dunkle Tiefe beförderte. Auf den Bootsplanken aber lag eine einzige schimmernde Schuppe, so groß wie ein Granatapfelblatt, die Ganesh aufhob und als Erinnerung an seinem Herzen bewahrte.

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Der Küchengehilfe kehrte nicht zu seinem Herrn zurück. Dort hätte ihn nur die Peitsche oder Schlimmeres erwartet. Er ließ das gestohlene Boot an der Meeresküste liegen und wanderte ziellos ins Land hinein, verdingte sich für eine Reismahlzeit hier und dort als Tagelöhner, bis er endlich die Hauptstadt erreichte, zu der alle Wege führten. Es war die Zeit des Bali Yatra-Festes, bei dem sich ganz Cuttack in einen riesigen Basar verwandelt. Unter den vielen Zeltdächern saßen Händler in fremdländischen Trachten, die mit kehligen Rufen ihre Waren anpriesen. Ganesh sah Stände mit Kupferschmuck und feinem Seidentuch, mit tausenderlei Gewürzen und Schnitzereien aus Elfenbein. Als er durch eine enge, düstere Gasse kam, die vom Trubel der Hauptstraßen abgeschnitten war, trat plötzlich unter einem schwarzen Zeltdach ein Mann hervor. Sein graues Haar hing ihm verfilzt über den Rücken, sein Gewand war mit Amuletten benäht, und auf Stirn und Wangen trug er seltsame Symbole, die ockerfarben und kreideweiß das Gesicht zierten.

„Du hast Meeraugen, Bursche“, sagte der unheimliche Alte. „Ich sehe wohl, das Wasservolk hat dich in seinen Bann geschlagen. Wenn du mir gibst, was ich verlange, will ich dir einen Trank dafür brauen. Er wird dich in einen Matsya-kanya verwandeln, so dass du deine Liebe wiederfinden kannst.“ „Und was verlangst du dafür?“, fragte Ganesh.

„Das Kostbarste, was du besitzt, und ein Jahr Arbeit dazu.“

Ganesh dachte eine Weile darüber nach. Dann nickte er und streifte den Ring ab, den seine Mutter ihm vererbt hatte. Aber der Hexendoktor lachte nur. „Nein, solchen Tand meine ich nicht. Das hier ist es, was ich verlange.“ Er tippte mit einem spindeldürren Finger dorthin, wo Ganesh die Nixenschuppe verborgen hatte.

Ganesh erschrak und zögerte. Doch was konnte ihm dieses Andenken nützen, wenn er den Prinzen selbst niemals wieder sehen sollte? Also holte er die Schuppe hervor und gab sie dem Hexendoktor zur Bezahlung.

„Gut, gut“, murmelte der Alte. „Sehr selten und wertvoll ist jederlei Pulver aus Nixenleibern. Noch besser eignen sich Knochen oder Fingernägel, aber auch eine Schuppe hat ihren Zweck. Fein gemahlen reicht schon ein Zehntel davon, um einem Feind die Wasserdämonen auf den Hals zu hetzen, so dass sie ihn bei nächster Gelegenheit ertränken.“

So wurde Ganesh zum Diener des Hexenmeisters, und oft wünschte er sich, den Handeln nie geschlossen zu haben. Tag und Nacht wurde er mit Schlägen und Verwünschungen zur Arbeit getrieben, musste Froschaugen mit dem Mist heiliger Kühe verkneten, musste Ratten melken, Krokodilschwänze häuten und Kessel voller Blut aufkochen. Aber schließlich ging auch dieses Jahr vorbei, und Ganesh forderte seine Belohung.

„Die sollst du erhalten, Junge“, kicherte der Hexenmeister, öffnete eine silberne Truhe und holte ein winziges Fläschchen mit meerblauer Flüssigkeit heraus. „Ein einziger Tropfen genügt für die Verwandlung“, sagte der Alte und fuhr boshaft fort: „Freilich wird er nicht sehr lange vorhalten. Vielleicht einen vollen Tag, dann wirst du merken, dass dir das Atmen schwer fällt und das Ertrinken bevorsteht. Doch keine Sorge, Shudra Ganesh, du musst nur schnell genug einen weiteren Tropfen nehmen, um deine Kiemen zu behalten.“

„Was ist, wenn ich den Trank aufgebraucht habe?“

Der Alte grinste und wiegte den Kopf hin und her. „Dann gibt es nur noch den Zauber der Meerleute selbst, der dich retten kann. Du hast wohl davon gehört?“

„Gewiss“, sagte Ganesh mit erhobenem Kinn. „Wenn ein Matsya-kanya mir seine Liebe schenkt und Treue schwört …“

„Dann wirst du wahrhaftig einer von ihnen werden. Nun, das sollte einem hübschen Burschen wir dir leicht fallen. Auch wenn dir nur ein Mondeslauf bleibt, bis der Trank zur Neige geht.“

Ganesh hatte wenig Hoffnung auf ein glückliches Ende. Aber ein Monat bei dem Prinzen mit den Jadeaugen war es wert, dafür zu sterben. Also nahm er das Fläschchen und wanderte, bis er an die Küste kam. Dort legte er seine Kleider ab, zog den Stöpsel aus dem Flakon und trank ...


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