Maerchenhaft


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Die Gehirndörfer

(5. Platz beim Kurd Lasswitz-Preis 2000)


"Bist du sicher, das wir hier landen wollen?" fragte Homme Martin Carter vorsichtig. Seine Frau zuckte mit den Schultern und ließ die Sicherheitsgurte ihres Pilotensitzes enger schnappen. "Wir haben wohl kaum eine Wahl."

Das kleine Schiff schwebte über einer Welt aus rosa Bubblegum. Seltsame Formen wölbten sich dem Himmel entgegen und versanken wieder mit einem fast hörbaren ‘Plopp’. Carter malte sich aus, wie er langsam in den Untergrund gesaugt und zu einer breiigen Masse in passend hellrotem Farbton zerdrückt wurde. Aber so unwahrscheinlich es schien, Femme Sarah hatte den Flieger schon an schlimmeren Orten heruntergebracht, und er vertraute optimistisch darauf, daß sie wußte, was sie tat. Mit einem zerschossenen Energieträger und drei verdampften Keramikmodulen hatten sie tatsächlich kaum Alternativen.

Seine Frau schaute ihn von der Seite an, einen spöttischen Blick in den Augen. "Immerhin warst du es, der uns auf diese Entdeckungstour zu den vergessenen Kolonien geschleppt hat. Ein Mann auf der Suche nach dem großen Abenteuer. Nun, jetzt hast du es gefunden."

"Tja", sagte Carter mit gequältem Lächeln. Eine bessere Antwort fiel ihm im Augenblick nicht ein. "Meinst du, wir haben wenigstens die Gottesjäger abgeschüttelt?"

"Ich habe wirklich keine Ahnung!"

Sie sagte es mit einem deutlichen Anflug von Mordlust. Er hatte ihr diese Frage gerade zum fünften Mal gestellt, als ob es ihre Chancen verbessern würde, wenn sie dem Universum ein überzeugtes ‘Ja’ entgegenrief.

Ihre letzte Begegnung mit einer Randwelt-Zivilisation war nicht besonders positiv verlaufen. Sarah hatte noch immer den Moment vor Augen, als eine riesige Volksmenge zu dem Schluß gekommen war, die beiden schwarzhäutigen Fremden seien die Inkarnation des Bösen, und man müsse sie in kochendem Reinigungsmittel exorzieren. Glücklicherweise hatten in diesem Augenblick die Warnsirenen geschrillt, die einen Wanderzug von Nesselwürmern ankündigten. Während der Lynchmob zu den Schutzräumen hastete, war es ihnen beiden gelungen zu entkommen.

Jedenfalls vorläufig ... Denn nun waren ihnen die Gottesjäger auf den Fersen. Offensichtlich machten die Bewohner von Newfrance jemanden namens Luzifer für das mörderische Ökosystem ihres Planeten verantwortlich, und eine spezielle Kaste von High-Tech-Assassinen war dazu ausgebildet, jede menschliche Erscheinungsform dieser Gottheit aufzuspüren und zu vernichten. Ihre Waffentechnik war überaus effizient, wie sich am Zustand des Schiffes ablesen ließ. Sehr lange würde Sarah es nicht mehr kontrollieren können. Es wurde höchste Zeit für ein Notlandung.

"Ich gehe jetzt runter", verkündete sie sachlich, und entgegen ihrer Erwartung gab Homme Martin nur ein fatalistisches Grunzen von sich. Sie ließ den Flieger in eine niedrige Umlaufbahn einschwenken und hielt Ausschau nach einem Stück Planet, das weniger lebensgefährlich aussah als der Rest. Langsam dreht sich die gewaltige Kugel unter ihnen, und endlose Flächen von brodelndem Himbeer-Joghurt rollten über den Horizont. Eine Warnsirene begann zu kreischen, gerade war auch noch das obere Landetriebwerk ausgefallen, und Sarah konzentrierte sich auf ihr Intrumentenpult. - Als sie kurz danach wieder aufschaute, war die Landschaft nicht mehr wiederzuerkennen.

Unter ihr lag ein riesiger, kreisrunder Kontinent, er schwamm wie ein grasgrüner Fremdkörper inmitten des pinkfarbenen Meeres. Während der Flieger langsam dem Boden entgegentrudelte, breiteten sich waldbedeckte Hügel vor ihren Augen aus, endlose Steppen und schneebedeckte Berge mit tiefblauen Seen ... Es sah aus, als habe jemand die ganze Palette irdischer Landschaften auf seine einsame Insel mitgenommen. "Terraforming", hauchte Homme Martin mit ehrfürchtiger Begeisterung. "Wir müssen tatsächlich eine der vergessenen Kolonien wiederentdeckt haben." Er lachte. "He, irgendein Gott ist verdammt gut auf uns zu sprechen, und es ist nicht dieser Luzifer!"

"Da vorne scheint sogar eine Stadt zu sein", stimmte Sarah mit einem flüchtigen Lächeln zu, während ihre Finger konzentriert die notwendigen Muster in das Schaltpult hämmerten. "Ich werde versuchen, uns in der Nähe runterzubringen."

Tatsächlich ragte eine Gruppe von glitzernden Wolkenkratzern am Horizont auf, ihre geometrischen Linien hoben sich scharf vom wolkenlosen Himmel ab. Je näher der Flieger kam, desto höher schienen die Gebäude zu wachsen, bis sie das ganze Sichtfenster ausfüllten, ein Labyrinth aus metallischen Wänden und verspiegeltem Glas. Sarah ließ die Maschine in eine der Straßenschluchten eintauchen, der Himmel verschwand hinter den Dächern, und die Häuserschatten legten sich über das Sichtfenster. Plötzlich hatte sie das Gefühl zu frösteln.

Sie runzelte die Stirn, versuchte ihr Unbehagen zu definieren, irgend etwas stimmte nicht ... Dann fiel ihr das Offensichtliche ins Auge: Die Bürgersteige waren leer; die City-Wagen waren säuberlich auf ihren Parkplätzen aufgereiht; die ganze Stadt schien vollkommen ausgestorben.

"Das ist merkwürdig", überlegte Martin laut. Er hatte die seltsame Sterilität des Bildes fast gleichzeitig bemerkt. "Alles scheint so neu zu sein, keine Anzeichen von Verfall, schau dir nur diese blitzblanke Fassaden an. Das hier kann unmöglich eine Geisterstadt sein."

"Stimmt, aber andererseits - dieser Ort liegt wie eine Insel in völliger Wildnis, und hast du vielleicht irgendwelche Zufahrtstraßen gesehen? Das ganze Panorama wirkt wie eine Filmkulisse."

Martin schüttelte nachdenklich den Kopf. "Das muß nicht unbedingt etwas bedeuten. Die Terraformer hier scheinen einen ziemlich exzentrischen Geschmack gehabt zu haben. Riesige Seen mitten in der Wüste, Wolkenkratzer im Urwald..."

Sarahs panische Stimme vollendete seine Aufzählung. "... und ein senkrechte Bergwand, die direkt vor uns liegt, verdammte Scheiße, wie soll ich den Flieger jetzt noch hochziehen, und was zum Teufel ist dieses riesige ..."

"Das ist die Freiheitsstatue", sagte Martin, fassungslos.

Dann prallte das Schiff gegen den Steilhang, der nachgab, als sei er aus Gummi. Sie wurden zurückgeschleudert, zerfetzten Hochhausfassaden, die über ihnen einknickten wie angesägte Baumstämme (es gab tatsächlich nur Fassaden, stellte Sarah flüchtig fest, die Häuser waren innen hohl), und landeten mit einem gewaltigen Krach im Sockel des McDonald Spacetower.

"Das Kolonialamt wird uns diese Geschichte niemals abkaufen", murmelte Sarah. Dann wurde sie ohnmächtig, und Martin, der sich fühlte, als habe man ihn gerade durch eine Müllpresse gezogen, machte es ihr nach.



*

Er erwachte mit einem Gefühl von Seekrankheit, der Boden unter ihm schien rythmisch zu schwanken, und erst nach einer Weile wurde ihm klar, daß dieser Eindruck nicht die Folge einer Gehirnerschütterung war. Er lag auf einer schmalen Matratze, und zwei Männer trugen ihn mit sicheren, gleichmäßigen Schritten den Berg hinauf. Direkt neben dem schmalen Weg fielen die Wände senkrecht in die Tiefe, und Martin beschloß, noch eine Weile ohnmächtig zu bleiben.

Als er das zweite Mal aufwachte, bog seine Matratze gerade in die lehmige Straße eines altertümlich aussehenden Dorfes ein. Häuser aus poliertem Holz standen zu beiden Seiten des Weges, die Fensterrahmen waren in einem fröhlichen Grünton gestrichen, und in den Blumenkästen wuchsen rote Rosen. Eine Frau trieb eine Herde Schafe vor sich her, während ein junger Mann Feuerholz hackte und eine lachende Gruppe von Kindern Wasser aus dem Dorfbrunnen zog. Die ganze Szenerie wirkte absurd, und Martin sagte sich, daß es wieder einmal typisch für ihn war, mit einem überlichtschnellen Raumschiff in einer Kolonie abzustürzen, die Knochenbrüche vermutlich mit Kräutertee behandelte.

Bei diesem Gedanken fiel ihm mit plötzlichem eiskalten Schrecken Sarah ein, hastig schaute er sich nach einer zweiten Bahre um. Der Eingeborene hinter ihm bemerkte es und sagte freundlich: "Machen Sie sich keine Sorgen. Ihre Frau wird gerade operiert." Die Stimme klang beklemmend optimistisch. Martin fühlte sich mit einem Mal hellwach.

"Was?? Was meinen Sie mit operiert? Ist es gefährlich?"

"Ich weiß nicht. Entweder sie überlebt oder sie stirbt", lautete die gleichmütige Antwort. Der Eingeborene schien an diesem Gedanken nichts Dramatisches zu finden. Jedenfalls reagierte er sehr überrascht, als Martin sich ruckartig aufrichtete und versuchte, von der Matratze zu springen: "Was soll das heißen, sie stirbt ..."

"Wir sind schon auf dem Weg zum Krankenhaus," sagte der Mann hastig und drückte ihn auf die Trage zurück. "Jetzt bleiben Sie doch liegen, wir sind ja gleich da." Mit beschleunigtem Tempo trug man ihn auf eines der altmodischen Holzhäuschen zu, sie traten gebückt durch die niedrige Tür und ...

... blanke Metallwände umschlossen einen Raum von blitzender Sterilität, komplizierte medizinische Apparate blinkten und summten zu allen Seiten. Schwingungsverstärker, Auraleser, ein ganzer Maschinenpark war um das Stützbett aufgereiht, in dessen körpergeformtem Wasserkissen Sarah ruhte. Vom Hals abwärts war sie vollständig in eine gummiartige Bandage eingewickelt, wie eine ägyptische Mumie.

Ihr Gesicht zeigte die totenähnliche Ruhe des Komaschlafs.

Martin wandte den Kopf ab, alle Spekulationen über Filmkulissen und Zivilisationssprünge waren plötzlich aus seinem Gehirn gefegt. Er schloß die Augen und schob den Anblick ihrer leblosen Züge aus seinem Bewußtsein, konzentrierte sich ganz auf das Gefühl der Bandagen, die sich nun auch um seinen Körper schlangen. Das Material fühlte sich seltsam feucht und seidig an, auf eigenartige Weise lebendig, es war, als würde man ihn in Blütenblätter hüllen. Er konnte sogar den Duft der Blumenkelche riechen, sanfter Honignebel senkte sich auf sein Bewußtsein, künstliche Pheromone überfluteten sein Gehirn. Die Zeit schien ihre Bedeutung zu verlieren, und er dämmerte in eine Welt von leuchtenden Träumen hinüber.

Er hätte nicht sagen können, ob Tage oder nur Minuten vergingen, bis eine junge Frau das Zimmer betrat. Er glaubte, sie schon einmal gesehen zu haben, sie hatte an seinem Bett gesessen und sich zu ihm herabgebeugt ... Eine Gruppe von Kindern folgte ihr mit eifrigen, ernsthaften Gesichtern. Sie versammelten sich um Sarahs Bett, und die Frau sagte irgend etwas Feierliches, es schien um die Einheit von Tod und Leben zu gehen. Dann nahm sie eine Vibrosäge vom Tisch, drückte sie mit einem zischenden Geräusch auf Sarahs Schädel herunter und schnitt ihn säuberlich in zwei Hälften. Sie nahm das Gehirn heraus, eine kurze Weile hielt sie es wie eine Opfergabe in den hocherhobenen Händen, dann ließ sie es in eine Schüssel mit Flüssigkeit sinken. Die Kinder stimmten ein Lied an und trugen das Gehirn davon, während das Bett begann, Sarahs Körper zu verzehren.

Die Frau drehte sich zu Martin um und schaute eine Weile nachdenklich auf ihn herab, sie trocknete ihre Hände und schloß dann mit einer sanften Berührung seine Augenlider. Als die Schwärze ihn umschloß, war er sicher, daß er das alles nur geträumt hatte.

*

Der Alptraum stand lächelnd an seinem Bett, als er wieder erwachte, eine hübsche, blonde Krankenschwester mit antiseptischer Kleidung. "Mein Name ist Laika", sagte sie: "Ich bin eine Wunschdenkerin, und ich kann dir alles beschaffen, was du willst. Vielleicht möchtest du etwas Bestimmtes essen? Du mußt du es mir nur sagen."

Er blinzelte, für einen Augenblick verwirrt von der fremden Umgebung, dann drangen ihre Worte bis zu seinem Bewußtsein vor und er krächzte ungläubig: "Wie wäre es mit einem überbackenen Pinguin-Steak?"

"Ich werde sehen, was ich tun kann." Sie stand auf, offensichtlich hatte sie seinen Sarkasmus nicht einmal bemerkt, und er schaute ihr einen Augenblick verblüfft hinterher. Dann rief er mit neuer Schärfe in der Stimme: "Wie wäre es mit meiner Frau?"

Sie schüttelte den Kopf, während sie an der gegenüberliegenden Wand herumtastete. "Es tut mir leid, deine Frau darf ich dir nicht bringen. Sie ist jetzt ein Teil der Großen Mutter."

Er blinzelte und versuchte, diese kryptische Bemerkung zu übersetzen, bis ihm klar wurde, daß es eigentlich völlig gleichgültig war. "Auf religiöse Vorträge kann ich verzichten", begann er wütend: "und die ‘große Mutter’ kann sich meinetwegen aufhängen, ich habe gesehen, wie du vorige Nacht ..." Er brach ab. "... das habe ich nicht wirklich gesehen, oder?"

"Sarah hätte nicht mehr lange überlebt", erklärte Laika mit vernünftiger Stimme. "Wir haben ihre Seele gerettet, um damit die Mutter zu wecken. Ich kann verstehen, daß du sie trotzdem gerne bei dir haben würdest, aber Wiedergänger sind nicht erlaubt."

Martin schwieg und kämpfte mit einem wachsenden Gefühl von Irrealität, während die junge Frau weiter an der leeren Wand herumtastete. Endlich schien sie gefunden zu haben, was sie suchte, sie legte die Stirn an das glatte Metall, umrahmte sie mit ihren Händen und stand eine Weile völlig bewegungslos. Es sah aus, als würde sie konzentriert auf etwas lauschen, dann allmählich begannen um ihre Finger herum Farben durch die spiegelnde Fläche zu strömen, in pulsierenden, schillernden Wellen. Der Rhythmus steigerte sich, die Wand beulte sich aus und wand sich in seltsamen Formen. Plötzlich gab es ein saugendes Geräusch, und als Laika ihre Arme zurückzog, hielt sie einen Teller mit einem großen, blutigen Stück Fleisch in den Händen. "Die Mutter sagt, daß niemand von den Alten überbackenes Pinguin-Steak kennt. Aber es gibt Rindfleisch. Möchtest du dein Essen lieber durchgebraten?"

"Nein, das ist schon ok", murmelte er nervös. Er hatte das Gefühl, daß der Teller ihn beobachtete. Wahrscheinlich würde das Steak ihm in die Finger beißen, sobald er sich näherte. Seine Rückenlehne schob sich langsam nach oben, die Bandagen wickelten sich von seinem Körper und krochen in das Bettzeug zurück, wo sie sich in Nichts auflösten. Für einen kurzen Moment schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß seine Krankenschwester ihn solange mit Steak mästen würde, bis ihn die Matratze zum Frühstück verzehrte.

In sorgsam unterdrückter Panik streckte er die Beine über den Bettrand, dann sprang er ruckartig auf, um einen sicheren Abstand zwischen sich und das lebende Mobiliar zu bringen. "Ich verstehe das alles nicht", jammerte er.

Laika drückte ihm ein Glas in die Hand. "Trink erstmal was, das beruhigt die Nerven", sagte sie, als habe sie es auswendig gelernt. Das Gebräu hatte die Farbe von Kornblumen, und Martin musterte es mit äußerstem Mißtrauen. "Was ist das?" fragte er.

Sie wirkte überrascht. "Wasser natürlich."

"Wasser", wiederholte er und starrte auf die Flüssigkeit in seiner Hand. "Aber es ist blau."

"Natürlich. Wasser ist blau. Das weiß doch jeder, oder?" Sie schaute ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, und er schaute zurück, und dann begann sich ganz allmählich ein Gedanke in seinem Kopf breitzumachen. "Natürlich ...", sagte er langsam: "und Gras ist grün und Wolken sind weiß, und jede Großstadt braucht ihre Freiheitsstatue. Ihr Kolonisten habt keine Ahnung, was Wasser eigentlich ist, oder? In Wirklichkeit besteht das hier alles aus dem Zeug, das wir beim Anflug gesehen haben. Blasenwerfender Himbeerjoghurt."

Laika zuckte mit den Schultern. "Die Mutter bemüht sich, alles richtig zu machen, aber sie kann nicht zwischen fiktiven und wirklichen Erinnerungen unterscheiden. Wenn die Farbe nicht korrekt ist, werde ich sie darauf aufmerksam machen. Vermutlich wurde sie von einem Symbol des kollektiven Unbewußten in die Irre geführt."

"Erst einmal", sagte er energisch: "wirst du mir jetzt genau erklären, was hier eigentlich vorgeht."

*

Sie hatte gesagt, sie würde es ihm lieber zeigen. Ob er sich schon gesund genug fühlte, um einen Ausflug zu machen? Dann war sie gegangen, um ein paar mechanische Pferde aus der Garage ihrer Almhütte zu holen.

Es wurde ein äußerst seltsamer Ritt. Mit sicheren Greifhufen kletterten die Maschinen aus den Alpen herunter in die Ebene, und so abrupt, als habe jemand die Grenze mit einem Lineal gezogen, verwandelte sich die Umgebung von karger Berglandschaft in einen üppigen Garten Eden. Martin trabte auf seinem goldlackierten Rappen durch sanfte Hügel voller exotischer Blumen, eine tropisch warme Brise strich über wogende Palmenwälder, und betäubend süße Düfte stiegen aus den Gräsern zu ihm auf.

Irritierend waren nur die Einhörner, die sich um Laika drängten, um ihr den Kopf in den Schoß zu legen. Auch ein paar Faune hatte Martin schon vorbeihuschen sehen, sie hatten die Größe von fünfjährigen Kindern und ein wuscheliges Fell, das den unwiderstehlichen Drang auslöste, ihnen die Locken zu kraulen.

"Die Tiere haben kein eigenes Bewußtsein, sie sind so etwas wie ferngesteuerte Teile der Mutter", erklärte Laika. "Nur die Menschen hier sind echt, alles andere ist eine aus Molekularbausteinen geformte Illusion. Aber spielt das wirklich eine Rolle? "

"Für mich schon."

Sie zuckte mit den Schultern. "Wir haben nie etwas anderes gekannt. Für eine Wunschdenkerin wie mich ist diese Welt das Paradies. Wenn ich die Mutter berühre und ihre Gedanken mich umschließen, dann öffnet sich mir das Wissen aller Kolonisten, die jemals auf diesem Planeten gelebt haben, Tausende von Erinnerungen, Tausende von unterschiedlichen Schicksalen. Ich suche die Bilder heraus, die ich zum Dasein erwecken will und erkläre der Mutter meine Wünsche. Sie ist manchmal recht konservativ, was eine Veränderung der ursprünglichen Erinnerungslandschaft angeht, das hast du ja an unserem altertümlichen Dorf gesehen. Aber wenn ich sie von der Notwendigkeit überzeugen kann, dann habe ich ich in der nächsten Minute ein mechanisches Pferd oder ein vollautomatisches Krankenzimmer. Man braucht dazu nur die Wissenschaftler der ersten Generation nach den nötigen Bauanleitungen zu fragen."

"Und natürlich muß man Phantasie und Wirklichkeit auseinanderhalten können, um eine funktionierende Realität und keine wirren Träume zu produzieren", nickte er in allmählichem Verständnis. "Das ist bestimmt nicht leicht, wenn man die echte Erde nie gesehen hat. Woher soll man schon wissen, ob es tatsächlich, nun ja ... Zigarren gab. Oder ob das in Wirklichkeit etwas Freudianisches ist. Aber ich verstehe immer noch nicht, wie eure ‘Mutter’ an diese Erinnerungen herankommt."

"Wir schenken sie ihr", sagte Laika, " - nach unserem Tod."

Er runzelte sie Stirn; er war sich nicht sicher, ob er dieses Konzept durchschaute. Während er noch überlegte, wie er seine Frage am besten formulieren konnte, hatten die Pferde den nächsten Hügel erstiegen. Und mit einem mal wurde jede weitere Erklärung überflüssig.

Eine zu Stein gewordene Fata Morgana breitete sich vor seinen Augen aus, ein zu atmendem Leben erwachtes Bild aus seiner eigenen Vergangenheit. Der rote Staub der Marswüste lag zu seinen Füßen, und darüber erhoben sich die gewaltigen Sonnensegel der Cité N.Mandela, sie überdachten die geduckten Häuserblocks seiner Heimatstadt wie ein sturmzerfetztes Nomadenzelt. Er konnte in den ockerfarbenen Schatten das sudanesische Restaurant erkennen, in dem Sarah ihm einen Verlobungsring übergestreift hatte. Hier waren sie beide aufgewachsen, von hier hatten sie ihren Weg zu den Sternen gesucht ...

"Deshalb hast du mich hierher gebracht. Du hast ihr Gehirn an diesem Platz begraben", sagte er, und Laika nickte.

Sie griff offensichtlich auf das Gedächtnis einer fremden Person zurück, als sie sagte: "Ich kann mich noch genau an den Augenblick erinnern, als das Forschungsschiff hier landete. Es war defekt, genau wie euer Flieger, es mußte aufsetzen und versank. Als die ersten Schiffbrüchigen in ihren Ballonbooten starben, überließ man sie dem Atmenden Meer, und die Mutter erwachte. Seit Jahrmillionen hatte sie ohne Bewußtsein existiert, nun gab das menschliche Nervensystem ihrem Wesen Struktur. Sie kopierte seine Form, ließ das Gedankenmuster durch ihren Körper wuchern. Das erste, was sie erschuf, war das Wohnzimmer des Doktor Narutow aus Warschau."

Martin nickte und starrte auf die Szenerie vor ihm, die in Wirklichkeit ein riesiger, lebender Organismus war. Inzwischen waren sie nahe genug herangekommen, um Einzelheiten zu erkennen, und er stellte fest, daß sie sich nicht mehr allein auf dem Mars befanden. Gruppen von schaulustige Touristen durchstreiften die Stadt, neugierige Hände betasteten die Pflanzen auf den Dachgärten und die glänzende Folie der Sonnensegel. Eine Familie hatte gleich ihren Möbelwagen mitgebracht und war schon dabei, sich häuslich einzurichten. In der Ferne schwebten rosa Blasen wie surrealistische Luftballons über den Horizont, bizarre Kreationen einer 20.000 km großen Lavalampe.

"Laß mich sehen, ob ich das richtig verstehe", sagte er, während er einen Himmel voller klebriger Himbeerwolken betrachtete. "Das hier ist Grenzland, gleich hinter der Stadt liegt der Rand des Kontinents, und der Rest des Planeten ist noch immer bewußtlos. Deshalb habt ihr Sarahs Gehirn nicht einfach im Dorf begraben, sondern es die ganze Strecke bis an diese Stelle transportiert. Um das Nervennetz der ‘Mutter’ auszudehnen ... Ich würde das als eine ziemlich unorthodoxe Form der Langewinnung bezeichnen. Und ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, ob ich das abstoßend oder wundervoll finden soll."

Laika lachte und breitete die Arme aus, um den Wüstenwind in ihren Ärmeln zu fangen. "Was könnte wundervoller sein, als wenn aus dem Tod neues Leben erwächst", sagte sie, und zum ersten Mal bemerkte er, daß ihre Stimme wie der Ton der Sommerflöten von Mandela klang. Er sah, wie sie ihre Hand auf seine Schulter legte, er betrachtete ihre schmalen weißen Finger auf seiner schwarzen Haut. Eigentlich war das Antwort genug.



***

"... und jetzt wohne ich hier, schon seit mehr als zehn Jahren", erzählte die nachdenkliche, unsterbliche Stimme im Kopf des jungen Wunschdenkers. "In ‘Sarahs Gehirn’ wie die Kolonisten ihre neugeborene Stadt so ungerührt nennen. Auch Teile anderer Welten sind an verschiedenen Stellen aufgetaucht, fremdartige Orte, die Sarah und ich einmal besucht haben, Vishnupatna, Himmelshaim ... Auf der gegenüberliegenden Seite der Alpen gibt es ein Stück Newfrance, aber ich habe es mir nicht angesehen, solche Gegenden sind nur etwas für Lebensmüde.

Laika und ich sind verheiratet, habe ich das schon erwähnt? Sie hat zusammen mit der Mutter ein neues Raumschiff erschaffen. Es steht in unserem Vorgarten, vielleicht werde ich es eines Tages benutzen. Aber im Augenblick bin ich glücklich hier, auf dieser wandelbaren Welt, in der Sarahs Träume wie Orchideen aus dem Boden wachsen."


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